Balladenabend

Wer rast so spät durch Nacht und Wind?
Klasse 7b interpretiert Gedichtsklassiker neu

Einen Toten forderte ein nächtlicher Verkehrsunfall, bei dem ein Lamborghini mit überhöhter Geschwindigkeit die Leitplanke durchbrach und gegen eine Erle prallte. Der umstürzende Baum erschlug den Beifahrer. Das Luxusgefährt war der Polizei vorher aufgefallen, als es mit 230 km/h durch eine Radarfalle raste. Wie sich am Unfallort herausstellte, wurde der Wagen vom Vater eines drogenabhängigen Jugendlichen gesteuert. Er habe seinen Sohn in eine Entzugsklinik bringen wollen, erklärte der unter Schock stehende Fahrer. Der Junge habe unter starken Halluzinationen gelitten und sei ihm plötzlich ins Lenkrad gefallen.

Was sich nüchtern wie ein Polizeibericht liest, hatte eine Schülergruppe der Klasse 7b des Apostel-Gymnasiums als Hörspiel produziert. Als Vorlage diente ihnen Johann Wolfgang von Goethes Ballade Der Erlkönig. Ist es im Original ein lockender Geist in den Nebelschwaden, der dem Jungen Todesfurcht einflößt, so war es in der Schüleradaption der „Schneekönig“, der den Süchtigen am Entzug hindern will. Die Aufgabe, Balladen in zeitgemäßer Form zu interpretieren, hatte Deutschlehrer Joscha Jan Zmarzlik gestellt, um den Jungen und Mädchen die Gedichtsgattung „Ballade“ näher zu bringen.

Ballade als Pantomime aufgeführt

Als weitere Vorschläge standen zur Auswahl Der Zauberlehrling (Goethe), Der Knabe im Moor (Annette von Droste-Hüllshoff), John Maynard und Die Brück’ am Tay (Theodor Fontane) sowie Belsazar (Heinrich Heine). Die Schüler konnten nicht nur ein Gedicht auswählen, sondern sich auch für Form und Medium der Neubearbeitung entscheiden. Zwei Teams hatten mit Video Belsazar und – etwas gattungsfremd – das Grimmsche Märchen Schneewittchen in Szene zu setzen. Eine weitere Gruppe bewies, dass man John Maynard auch als Pantomime aufführen kann.

Froh, Satzbau und Zeichensetzung abhaken zu können, stürzten sich die Schüler auf das neue Unterrichtsthema. Texte wurden geschrieben, verworfen oder überarbeitet. Die Teams trafen sich nachmittags und selbst am Wochenende mit ihrem Lehrer, um ihr Projekt voranzutreiben. Der Musiksaal wurde zeitweilig in ein Aufnahmestudio umfunktioniert. Der Schneewittchen-Film entstand im Kinderzimmer einer Schülerin und im Gartenhäuschen der Eltern. Das zweite Filmteam hatte den ehemaligen Decksteiner Friedhof als Set erkoren.

Präsentation der Gedichtadaptionen

Die Arbeiten konnten sich sehen und hören lassen. Schnell war die Idee geboren, die Gedichtadaptionen den Eltern vorzustellen. Auch Deutschlehrer Zmarzlik ließ sich schließlich überzeugen. So fand die Aufführung im März 2007 durch Elternvermittlung in der evangelischen Matthäuskirche statt, einen Steinwurf vom APG entfernt.

Zwei Moderatoren führten durch den Abend. Er begann mit dem Gedicht Die Brück’ am Tay, das ein Schüler rezitierte, um die Eltern mit dem Inhalt vertraut zu machen. Dann zeigte die gesamte Klasse mit ihrer Neuschöpfung, dass man heute nicht reimt und Verse schmiedet, sondern rappt, was das Zeug hält. Begleitet wurden die Schüler von ihrem Deutschlehrer, der kräftig in die Tasten des Flügels griff. Auch Belsazar trug ein Schüler vor, ehe eine Parodie à la Krieg der Sterne über die Bühne ging. Der Mord am gottlästernden König, wie in Zeitlupe dargeboten, geriet zum Höhepunkt der Neufassung. Entging er noch dem ersten Dolchstoß, so war der zweite tödlich. Theatralisch sank der Tyrann zu Boden.

Applaus für besondere schauspielerische Leistungen

Während Zmarzlik John Maynard rezitierte, untermalten die Schüler die dramatischen Verse mit einer Pantomime. Sie schwankten im Sturm, als stünden sie auf wankenden Schiffsplanken, und sie schwammen auf dem Boden liegend, als ginge es um ihr Leben. Auch die Filme wurden immer wieder vom Applaus der Eltern und Mitschüler für besondere schauspielerische Leistungen unterbrochen. Die Sprösslinge zeigten, dass manch verborgenes Talent in ihnen schlummert. Und Kreativität. So war es sehenswert, wie eine anonyme Menschenhand hinter einem Grabstein „hervorschlich“ wie eine Schlange, Buchstaben auf das Grabmal kritzelte und genauso geheimnisvoll wieder verschwand. Die Hörspielgruppe schließlich präsentiert gleich zwei Versionen: eine textnahe Fassung mit Hufgeklapper sowie eine Parodie.
Zum Schluss des Balladenabends sparte Joscha Jan Zmarzlik nicht mit Lob für seine Schüler und konnte feststellen: „Die Klasse ist an diesem Abend über sich hinausgewachsen.“ Die zeitgemäßen Interpretationen, der Applaus der Eltern und die Anerkennung ihres Deutschlehrers bewahrten die Schüler allerdings nicht davor, dass jeder – wie eh und je im Deutschunterricht – eine Ballade auswendig lernen musste. (rs)

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Der Schneekönig

Parodie auf die Ballade „Der Erlkönig“
Erzähler: Wer rast mit seinem Lamborghini durch Radarfalle? Es ist der Vater mit
seinem Kind.
Vater: Sohnemann, was grinst du so ungesund?
Sohn: Bleib locker, war doch nur ne Überdosis Speed!
Vater: Speed!
Erzähler: Der Vater beschleunigt noch mehr.
Vater: Du brauchst Hilfe! Du musst runter von den Drogen, wir fahren zur Entzugsklinik.
Erlkönig: Hast Du Probleme mit Deinem Alten?
Sohn: Paps, so’n Gammler will was von mir.
Vater: Ist es schon so weit gekommen, dass Du Stimmen hörst?
Sohn: Yeah, Paps, Du bist ein großer Checker!
Vater: Lass’ diese Jugendsprache in meiner Gegenwart, ja?
Erlkönig: Hast Du Geldprobleme? Willst Du Stoff?
Sohn: Paps, ich höre die Stimme von nem Superdealer.
Erzähler: Der Vater beschleunigt.
Vater: Ich habe nichts gehört.
Sohn: Hey, Paps, hast Du Schnee im Handschuhfach?
Vater: Hör auf – wir sind gleich bei der Klinik.
Erlkönig: Entzug ist Folter, Entzug ist grausam, hehehe!
Sohn: Paps, willst Du, dass ich am Entzug verrecke?
Navi: In 500 Metern rechts abbiegen und dem Straßenverlauf folgen.
Erlkönig: Gleich seid Ihr da, das musst Du verhindern.
Sohn: Paps, ich mache keinen kalten Entzug, never ever. Ich will zum Schneekönig.
Erzähler: Der Vater gibt Gas. 230.
Sohn: lacht laut auf und greift ins Steuer. Der Wagen bricht scharf rechts durch die Leitplanke, jagt über den Acker.
Der Sohn: ruft noch: Schneekönig, Schneekönig, komm!
Dann prallt der Wagen gegen eine ERLE.


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